Unsere Politiker, gleich welcher Farbe, weisen leider eine sehr geringe Qualität auf. Dies kann man statistisch an den Wirtschaftsdaten messen, allerdings erst ein paar Jahre oder Jahrzehnte später, wenn verheerende Dummheiten ihren Tribut fordern. Es gibt allerdings auch einen Seismographen für Realitätsferne der Politik, der bereits mit wenigen Stunden oder Tagen Verspätung messen kann, wie es um die Volksvertreter steht: Die statistische Analyse des Vokabulars.

(Von Rechtsanwalt Michael C. Schneider, Frankfurt am Main)

Dank der auf der Homepage des Bundestages eingestellten Plenarprotokolle ist es möglich, Plenarsitzungen als Textdatei abzurufen und nach bestimmten Schlüsselbegriffen automatisch zu durchsuchen. Dieses Verfahren läßt bereits objektive Rückschlüsse darauf zu, ob unsere Politiker einen Zugang zu der Wirklichkeit haben, in der das Volk lebt, oder nicht.

Dafür will ich als Beispiel das Plenarprotokoll vom Freitag, 8. Oktober 2010, für alle anderen herausgreifen, weil es – Stand: 16. Oktober 2010 – das jüngste Protokoll ist, das auf der Homepage des Bundestages veröffentlicht worden und verfügbar ist.

Tagesordnungspunkte sind die ökonomische Wirkung der Konjunkturpakete (Nr. 28), der Kulturtourismus (Nr. 29), die Familienfreundlichkeit der Arbeitswelt (Nr. 30), der Beitrittsantrag von Serbien (Nr. 31) und die UN-Resolution zu Frauen, Frieden und Sicherheit (Nr. 32), also ein gut durchwachsenes Gemisch an mehr oder weniger ermüdenden Freitagsthemen. Immerhin darf der Bundestag am Freitag noch tagen.

Politisch übliche Mode- und Reizbegriffe finden gehäuft Verwendung. So ist 3 x von “Integration” die Rede, nämlich 1 x von der Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt, 1 x von der Integration Serbiens in die EU und 1 x von der Integration von Frauen in friedensschaffende Prozesse. Alle und alles soll integriert werden. Der blutige Schlüsselbegriff “Afghanistan” findet 14 x Verwendung, 2 x sehr allgemein, 3 x zum Einsatz der Bundeswehr, 5 x zu Frauenrechten dortselbst, 2 x zu der Taliban-Herrschaft und 2 x zur Situation der Studenten ebendort.

Bei den Themenfeldern “Familienfreundlichkeit der Arbeitswelt” und der “UN-Resolution zu Frauen, Frieden und Sicherheit” hätte der unbefangene Beobachter vielleicht erwarten können, dass auch etwas zu den unterschiedlichen Bildern der unterschiedlichen Weltanschauungen von “Familie, Frauen und Arbeitswelt” sowie “Frauen, politische Teilhabe und Friedensprozesse” angesprochen werden würde. Soweit dies geschehen ist, wurden bestimmte politisch leicht brennbare Begriffe aber peinlich genau vermieden.

Den Begriff “Christentum” sucht man im ganzen Text vergeblich. “Christlich” taucht 5 x in der Debatte auf, aber immer in der Zusammensetzung “christlich-liberal” als Bezeichnung der Bundesregierung und der Koalition schwarz-gelb. Auch die Begriffe “Muslim”, “muslimisch” und “Islam” erzeugen keine Übereinstimmungen, obwohl die Integration von Frauen in die Arbeitswelt (Thema Nr. 30) und die Durchführung der UN-Resolution zu Frauen, Frieden und Sicherheit (Thema Nr. 32) hätten Anlass geben können, den Konflikt der Weltanschauungen und seine praktischen Konsequenzen zu verbalisieren.

Aber selbst dort, wo (2 x) vom “Terror” die Rede ist (einmal ist sogar von der “Terrorherrschaft der Taliban” die Rede), sucht man die Begriffe “Muslim”, “muslimisch”, “Islam”, “islamisch” und “islamistisch”, die im Dokument je 0 x vorkommen, vergeblich.

Dagegen findet sich der Begriff “sozial” als feuerfester Begriff 40 x, z.B. als “soziale Ursache”, “soziale Teilhabe”, “Sozialdemokratie”, “sozialdemokratisch”, “sozial-Ökologisch”, “Sozialstaat”, “soziale Gerechtigkeit”, “soziale Absicherung”, “soziale Komponente”, “sozialer Aspekt”, “soziale Frage”, “soziale Dinge”, “Sozialleistungen”, “soziales Gefüge”, “soziale Textur”, “soziale Fantasie”, und so weiter.

Solange leicht brennbare Begriffe wie “christlich” und “muslimisch” vermieden und nur feuerfeste Begriffe wie “sozial” verwendet werden, ist eine innerdeutsche, eine europäische und eine globale Richtungsdebatte freilich nicht durchführbar, und ein vollständig sozialdemokratisiertes Parteienspektrum ist sich eigentlich in allem einig, vor allem darin, dass alle alles umsonst bekommen, und dass kommende Generationen dann die Rechnung dafür bezahlen sollen, wenn die heutigen Politiker alle längst verstorben sind.

Unabhängig von der politischen Farbe kann man der Politik also bescheinigen, dass sie bereits in der banalen Alltagsdiskussion die Augen vor evidenten Zusammenhängen und bekannten Ursache-Wirkung-Zusammenhängen verschließt. Sie bildet sozusagen Sätze mit Prädikat und/oder Objekt, wie der Problematik der Integration von Frauen in die Arbeitswelt oder in den politischen und Friedensprozess bestimmter Staaten, aber sie blendet die handelnden Subjekte, also die okzidentalisch-christlichen oder orientalisch- muslimischen Menschen, Nationen und Kulturkreise aus; ihre Sätze sind grammatisch unvollständig, weil sie kein Subjekt haben, und um das zu verbergen, sind die Sätze dann um so länger und um so gehaltloser (“Wir müssen reden, kommunizieren, die öffentliche Kommunikation […] herstellen”; rhetorische Glanzleistung von Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung.)

Was bleibt, wenn die politische Kommunikation bereits bei einem ersten spontanen Zugriff auf die verwendete Sprache gehaltlos bleibt und den Kern pointiert verfehlt?

Da bleibt es nur, Präsident Dr. Norbert Lammert zu zitieren: “Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. […] Ich wünsche Ihnen ein schönes, offenkundig sonniges Wochenende. Das gilt auch den Besucherinnen und Besuchern. Genießen Sie Berlin! Die Stadt ist bei diesem Wetter noch attraktiver als ohnehin. Alles Gute! Die Sitzung ist geschlossen.”