Der grösste Teil der Gesetze, welche die britische Regierung beschliesst, stammt aus der EU. Eine neue Studie hat zum ersten Mal deren Kosten errechnet. Sie sind immens. Von Markus Somm

Seit 1998 hat die britische Regierung Gesetze, Regeln und Massnahmen verabschiedet, die insgesamt Kosten von 176 Milliarden Pfund verursacht haben. Der überwiegende Teil dieser Kosten geht auf Regulierungen zurück, die aus der EU stammen. Dieses Ergebnis hat eine Studie des unabhängigen Think-Tanks «Open Europe» zutage gefördert.

Die Zahlen sind insofern unverdächtig, als sie von der Regierung selbst kommen. Unter Tony Blair hat die Regierung 1998 sogenannte Impact Assessments eingeführt: Jedes Gesetz muss auf seine Auswirkungen (impact) untersucht werden – nicht zuletzt, was seine Kosten und seinen Nutzen betrifft. Kein Ministerium darf eine Massnahme durchsetzen, ohne dass eine Prüfung stattgefunden hat. Trotz dieser Hürde sind in Grossbritannien die Kosten der Regulierung in den vergangenen elf Jahren stetig gestiegen.

Die Forscher von Open Europe lasen fast alle 2300 dieser Impact Assessments, die seit 1998 entstanden sind. Aufgrund der Zahlen, die die Beamten selber in ihre Berichte schrieben, eruierte Open Europe den Betrag von 176 Milliarden Pfund, der auch im Vergleich zum britischen Bruttoinlandprodukt sehr hoch erscheint: Er entspricht 13 Prozent des BIP, also aller Güter und Dienstleistungen, welche die britische Volkswirtschaft in einem Jahr herstellt. 2009 betrugen die jährlichen Kosten der Regulierung 33 Milliarden Pfund. Hätte die Regierung auf diese Gesetze verzichtet, wäre sie in der Lage gewesen, die Unternehmenssteuern um zwei Drittel zu senken.

Ein zweiter Befund ist bemerkenswert: 71 Prozent dieser Kosten – 124 Milliarden Pfund resultierten aus Regulierungen der EU. Es handelt sich um Gesetze und Massnahmen, die in Brüssel beschlossen wurden und die die britische Regierung lediglich umgesetzt hat. Das Parlament musste diese zwar gutheissen, aber nur die konkreten Details die Stossrichtung einzelner Massnahmen konnte es nicht verändern. Selbst wenn die Kosten höher waren als der Nutzen, wurde die Massnahme durchgesetzt. Denn die Impact Assessments führen nicht nur die Kosten einer neuen Massnahme auf, sondern auch den erwarteten Nutzen. Oft ist dieser gering, ab und zu durchaus hoch. Was auffällt: EU-Regulierungen sind meistens teurer als britische Gesetze, und vor allem ist der Nutzen immer geringer. Zu Recht folgert Open Europe, dass die britische Regierung darauf bestehen müsste, möglichst viele Gesetze selber zu beschliessen. Ein Grund dafür, dass einheimische Regulierungen kostengünstiger und effektiver sind, liegt daran, dass es innerhalb der EU fast unmöglich ist, eine Direktive zu korrigieren. Selbst wenn ein Gesetz nicht die erhoffte Wirkung bringt, ja vielleicht sogar schadet, brauchte eine Revision die erneute Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten. Diese erneut einzuholen, ist eine Mühsal, die sich niemand in Brüssel antut.

Volle Bezahlung fürs Schlafen

Dass die Kosten der EU-Regulierungen zu hoch sind, weiss die EU-Kommission längst. Vor allem der ehemalige deutsche Kommissar Günter Verheugen (SPD) hatte sich bemüht, diese Kosten in den Griff zu bekommen. Unter anderem wies er die Bürokraten auf eine triviale Einsicht hin: Man kann auch einmal nichts tun. Diese simple Regel scheitert an den Naturgesetzen der Bürokratie: «27 Kommissare», sagte Verheugen dem Spiegel, «das bedeutet 27 Generaldirektoren, und 27 Generaldirektoren bedeuten, dass alle beweisen müssen, dass man sie braucht, indem sie ständig Vorschriften, Strategien oder irgendwelche Projekte in die Welt setzen. Jedenfalls immer mehr, immer mehr, immer mehr.»

Selbst im pragmatischen England ist die Tugend des staatlichen Nichtstuns vergessen gegangen. In den 320 Impact Assessments, die die Verwaltung im vergangenen Jahr verfasst hatte, gab es nur einen Hinweis, dass man auf das vorgeschlagene Gesetz verzichten könnte. Selbst wenn der Nutzen unklar war, fiel es den emsigen Beamten nicht ein, ihrem Minister das Gesetz auszureden. Anscheinend hilflos stemmen sich die EU-Kommission und die britische Regierung gegen eine Regulierungsflut, die aus Brüsseler Amtsstuben bricht.

Wenn die britische Regierung versucht, eine Direktive aus Brüssel so umzusetzen, dass sie für Grossbritannien Sinn macht, tritt oft der EU-Gerichtshof auf den Plan. Er revidiert und verändert das nationale Gesetz, ohne dass das britische Parlament dazu noch etwas zu sagen hätte. Ein Beispiel ist die EU-Direktive zur Arbeitszeit. Acht Mal besserten die EU-Richter die britische Fassung nach und veränderten sie zur Unkenntlichkeit. Gemäss EU-Recht muss der staatliche National Health Service seine Ärzte auch dann voll bezahlen, wenn sie nur auf Pikett sind. Resigniert stellte der damalige Gesundheitsminister John Hutton vor dem Parlament fest: «So hatten wir uns das sicher nicht vorgestellt, als wir dieser Direktive ursprünglich zustimmten: dass Schlafenszeit gleich entlöhnt wird wie Arbeitszeit.» Einer allfälligen neuen, konservativen Regierung rät Open Europe, in Brüssel aktiver zu werden. «Nur 28 Prozent der gesamten Regulierungskosten kann die britische Regierung noch von sich aus reduzieren.»

Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 15/10