Sehr geehrte Damen und Herren,

für die Einladung zur Bundespressekonferenz dürfen wir uns ganz herzlich bedanken.

Seit einigen Wochen, genauer seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010, befindet sich der so genannte Lohnabstand in außerordentlich hitziger Diskussion. Angst wird geschürt, die Regelsätze würden in Folge des Urteils angehoben. Dabei sei doch schon heute für Hartz IV-Bezieher kaum noch ein finanzieller Anreiz zur Arbeitsaufnahme gegeben.

Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet – diese Forderung wird so lautstark und so penetrant wiederholt, bis auch der Letzte das Gefühl bekommt, in Deutschland lohne es sich nicht mehr zu arbeiten. Ja sogar einen sozialstaatlichen Paradigmenwechsel will man, da man das Leistungsprinzip mit Füßen getreten sieht.

In offensichtlicher Unkenntnis des Sozialrechts wird dabei auf äußerst dubiose Berechnungen zurückgegriffen. Sehr starke Beachtung fanden etwa die Tabellen des Karl-Bräuer-Instituts, des Instituts des Bundes der Steuerzahler. Danach sei der Lohnabstand bei Anlerntätigkeiten gleich in zahlreichen Wirtschaftszweigen nicht mehr gewahrt. Als Lesehilfe wird ein Alleinverdiener mit Ehefrau und zwei Kindern angeführt. Bei einem Bruttoverdienst von 1.262 Euro käme er mit Kindergeld auf ein monatliches verfügbares Einkommen von 1.375 Euro. In Hartz IV hätte diese Familie jedoch 1.653 Euro, also deutlich mehr. Die 268 Euro Differenz, so das Institut, könne sie sich jedoch staatlich aufstocken lassen.

Meine Damen und Herren,

völlig unverfroren wird unterschlagen, dass diese Familie im Unterschied zum Hartz IV-Haushalt zusätzlich Wohngeld und Kinderzuschläge von insgesamt rund 550 Euro bekäme. Ihr Einkommen beträgt in Wirklichkeit nicht 1.375 Euro, wie es das Institut ausweist, sondern 1.925 Euro. Die Familie hat deutlich mehr als in Hartz IV. Aufstocken kann sie nicht.

Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft fanden wir jüngst mit Beispielen zitiert, wonach ein Ehepaar ebenfalls mit nur einem Verdiener und zwei Kindern über ein Erwerbseinkommen inklusive Kindergeld von 1.830 Euro verfüge, während diese Familie in Hartz IV in Kombination mit einem 400-Euro-Job sogar auf 1.898 Euro käme.

Und auch in diesem Beispiel werden gleich 515 Euro Wohngeld und Kinderzuschlag einfach ignoriert, obwohl die Familie Anspruch darauf hätte. Die Beispielfamilie hat nicht 1.830 Euro zur Verfügung, sondern 2.345 Euro. Auch in diesem Fall liegt das verfügbare Einkommen klar über Hartz IV.

Meine Damen und Herren, das sind nicht die einzigen Beispiele dafür, was in den letzten Wochen an falschen Zahlen und Fakten zum Lohnabstand in die Welt gesetzt wurde.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier mit falschen, weil unvollständigen Berechnungen Klima und Politik gemacht werden sollen. Es werden Einkommensberechnungen vorgelegt, wohl wissend, dass sie mit der Realität nichts zu tun haben. Man kann nicht einfach irgendwelche Ansprüche der Familien außen vor lassen, nur weil sie einem gerade nicht passen. Was in den letzten Wochen an Zahlen in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, grenzt an bewusster Irreführung.

Die Wirkung ist fatal: Nur mittels solcher fehlerhaften Berechnungen ist es möglich, davon zu sprechen, dass Familien in Erwerbsarbeit häufig nicht mehr hätten als Hartz IV-Bezieher. Nur mittels solcher unvollständigen Angaben zum Einkommen von erwerbstätigen Familien ist es möglich, ein Klima zu erzeugen, wonach Arbeit und Leistung sich mit Blick auf Hartz IV nicht mehr lohnen in Deutschland.

Wir hielten es daher für dringend geboten, eigene Berechnungen anzustellen, vollständig und transparent. Wir wollten wissen, wie es denn nun tatsächlich um das Lohnabstandsgebot in Deutschland bestellt ist.

Wir haben dazu das Einkommen unterschiedlicher Haushaltstypen – von Singles bis hin zu großen Familien und Alleinerziehenden – im unteren Lohnbereich dem Einkommen vergleichbarer Haushalte im Hartz IVBezug gegenübergestellt.

Wir haben uns ganz bewusst an den Beispielen orientiert, die auch in der öffentlichen Diskussion immer wieder herangezogen werden: Verkäuferin, Wachleute, Zeitarbeiter, Kellnerinnen oder Beschäftigte in Call-Centern. Wir haben wegen des unterschiedlichen Lohnniveaus zwischen Ost- und Westdeutschland unterschieden, und wo nötig auch zwischen Frauen und Männern.

Insgesamt 196 Beispielrechnungen haben wir durchgeführt, ein systematisches Abbild unterer Lohngruppen bis tief hinein in den Niedriglohnsektor.

Die Befunde: Diese Erkenntnis ist nicht überraschend. Der Gesetzgeber hat mit den Freibeträgen auf  rwerbseinkommen einen Lohnabstandsautomatismus quasi eingebaut. Überraschend ist vielmehr, dass diese Tatsache in der aktuellen Diskussion regelmäßig ignoriert oder heruntergespielt wird. Selbst den „Aufstockern“, denjenigen Erwerbstätigen also, die ergänzende SGB II-Leistungen erhalten, bleiben bekanntermaßen bis zu 280 bzw. 310 Euro mehr als einem vergleichbaren Haushalt, der ausschließlich auf Hartz IV angewiesen ist. Unsere Berechnungen weisen Einkommensabstände von bis zu 56 Prozent bzw. bis zu 900 Euro aus. Selbst bei sehr schlechter Entlohnung wird bei Vollerwerbstätigkeit immer eine Einkommensdifferenz von mindestens 260 Euro, meist aber deutlich mehr erreicht.

1. Der Lohnabstand ist in allen Fällen gewahrt.

Die Aussage, dass es sich finanziell nicht lohne, 40 Stunden die Woche arbeiten zu gehen, entspricht schlicht  nicht der Realität:

  • Bei Singles beträgt der Lohnabstand in der Regel zwischen 300 Euro bis zu 900 Euro. Der alleinstehende Hilfsarbeiter im Gartenbau hat rund 620 Euro im Monat mehr als wäre er arbeitslos, der Fabrikhilfsarbeiter rund 900 Euro.
  • Bei den Alleinerziehenden lag der Abstand zum Hartz IV Niveau mehrheitlich zwischen 20 und 30 Prozent und betrug damit zwischen 300 Euro bis zu fast 500 Euro. Die alleinerziehende Verkäuferin und ihr dreijähriges Kind haben – bei alles andere als üppigen Löhnen und ganz ohne zusätzliche Leistungen – bis zu 351 Euro mehr im Monat, als würde die Mutter nicht arbeiten. Und auch die alleinerziehende Kellnerin kommt dank Kinderzuschlag und Wohngeld auf diese Summe.
  • Bei Paarhaushalten mit Kindern liegt der relative Einkommensabstand naturgemäß geringer als bei kleineren Haushalten – je nach Anzahl der Kinder zwischen 12 und 24 Prozent. Wegen der Größe der Haushalte betragen die Absolutbeträge hier jedoch ebenfalls bis zu 600 Euro. Diese Summe hat beispielsweise in Westdeutschland ein verheirateter Wachmann mit drei Kindern dank Kinderzuschlag und Wohngeld mehr als die vergleichbare Familie im Hartz IV-Bezug.
  • Bei Paarhaushalten ohne Kinder mit nur einem Verdiener betrug der Lohnabstand meist um die 20 Prozent und lag in der Regel bei dem maximalen Freibetrag auf Erwerbseinkommen von 280 Euro. Allerdings kommt ein kinderloses Paar, von denen einer Vollzeit bei einem Call-Center arbeitet, auch ohne Aufstockung auf bis zu über 400 Euro mehr an Einkommen, als wenn keiner der Partner arbeitet.

2. Das Instruments des Kinderzuschlages muss neu justiert werden.

Neben der Ermittlung des tatsächlichen Lohnabstandes war für uns von Interesse, welche Rolle Wohngeld, Kindergeld inklusive Kinderzuschlag oder ergänzende Leistungen nach dem SGB II für die einzelnen Haushaltstypen spielen. Es zeigte sich: Bei vollzeiterwerbstätigen Singles ist der Lohnabstand meist allein über das Erwerbseinkommen gewährleistet. Nicht einmal dem Wohngeld kommt Bedeutung zu. In Haushalten mit Kindern dagegen sorgen in vielen Fällen Wohngeld und Kinderzuschlag dafür, dass der Lohnabstand gewahrt wird. Auf ergänzende Hartz IV-Leistungen besteht dann kein Anspruch.

Der Kinderzuschlag ist eine Leistung, die ausdrücklich mit dem Ziel eingeführt wurde, erwerbstätige Eltern mit geringem Einkommen vor dem Aufstocken zu bewahren. In ganz vielen Fällen klappt das auch. In einigen Fällen aber nicht. Grund ist, dass den Kinderzuschlag nur bekommt, wer auch ein bestimmtes Mindesteinkommen hat. Liegt er darunter, entfällt der Anspruch – beispielsweise in der Zeitarbeit oder dem Gartenbau in Ostdeutschland. Soll der Kinderzuschlag also seine Funktion erfüllen, muss er dringend neu justiert werden und allen Erwerbstätigen mit  Kindern und geringem Einkommen zugute kommen.

3. „Aufstocken“ ersetzt weder Komi- noch Mindestlohn.

Paarhaushalte ohne Kinder können naturgemäß weder Kindergeld noch Kinderzuschlag beanspruchen. Bei ihnen spielt dagegen das „Aufstocken“ eine zentrale Rolle. Zwei Drittel der Beispiele von Paarhaushalten ohne Kinder mit nur einem Vollverdiener sind auf ergänzende Hartz IV-Leistungen angewiesen.

Doch Aufstocken kann immer nur die zweitbeste Lösung sein. Wer aufstocken will, muss erst einmal sein Erspartes einsetzen. Er muss damit rechnen, möglicherweise dazu aufgefordert zu werden, in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Er muss es dulden, wenn in seine Privatsphäre eingedrungen wird, um zu prüfen, mit wem er zusammenlebt. Für Kleinstbeträge erhält er völlig unverständliche, dafür seitenlange Bewilligungsbescheide. Am Ende findet er sich doch nur an der Armutsgrenze wieder. Dies kann nicht ernsthaft als modernes Kombilohnmodell zur Flankierung eines Niedriglohnsektors verkauft werden. Hartz IV kann daher niemals eine verbesserte Lohnstruktur selbst oder als Alternative dazu ein Kombilohnmodell ersetzen.

Fazit:

Meine Damen und Herren,

die von uns vorgelegten Fakten schaffen eine gute Grundlage für eine sachliche Diskussion zur Frage des Lohnabstandes, zu notwendigen Verbesserungen beim Kinderzuschlag, aber auch für eine Auseinandersetzung mit Niedrigstlöhnen. Die Fakten sagen ganz zweifelsfrei: Wer arbeitet, hat mehr als derjenige, der nicht arbeitet. Selbst bei niedrigsten Löhnen sind für die Menschen im Hartz IV-Bezug finanzielle Anreize  zur Arbeitsaufnahme ganz objektiv gegeben. Ob allerdings Stundenlöhne bis zu unter 6 Euro noch irgendetwas mit einem wie auch immer gearteten Leistungsprinzip zu tun haben, geschweige denn mit irgendeinem Gerechtigkeitsideal, muss allerdings klar verneint werden.

Und ein Weiteres machen die Berechnungen deutlich: Wer behauptet, eine Senkung der Einkommensteuer könne den Einkommensabstand zwischen Hartz IV-Beziehern und Erwerbstätigen in unteren Lohngruppen vergrößern, wer behauptet mit einer Senkung der Einkommensteuer könnten zusätzliche Anreize für Hartz IV-Bezieher zur Aufnahme auch schlecht entlohnter Tätigkeiten geschaffen werden, täuscht die Öffentlichkeit – ob willentlich oder in Unkenntnis.

Die Haushalte, um die es wesentlich geht, die alleinerziehende Verkäuferin, der Wachmann mit Ehefrau und zwei Kindern oder der Hilfsarbeiter im Gartenbau mit Familie, zahlen keine oder kaum Einkommensteuer. Ihnen hilft deshalb auch keine Steuerreform. Was diese Menschen brauchen, ist mehr Lohn, ein verbesserter Kinderzuschlag und mehr und bessere Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Eine Senkung der Einkommensteuer würde Bund und Kommunen genau hierfür jedoch die Finanzmittel entziehen. Sie wäre kontraproduktiv.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar die Frage von Prioritäten in der bundesdeutschen Sozial- und Bildungspolitik ganz klar beantwortet. Jedem, der es selbst nicht vermag, sind nicht nur die Voraussetzungen für das physische Überleben sicherzustellen, sondern auch für ein Mindestmaß an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe. Kindern – auch im Hartz IV-Bezug – sind gerechte Bildungschancen einzuräumen. Dabei sind alle Aufwendungen realitätsgerecht nach dem tatsächlichen Bedarf zu bemessen. Es geht um die bedarfsgerechte Sicherung von Teilhabe als unbedingtes Muss. Wenn daraus Probleme erwachsen sollten mit Blick auf den Lohnabstand, dann werden sie durch eine kluge Lohnpolitik und durch intelligente Anpassung der anderen Sozialtransfers wie Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag zu lösen sein.

Und wenn daraus Probleme erwachsen sollten für die Realisierung irgendwelcher Steuerentlastungspläne, dann müssen diese im Zweifelsfalle hintangestellt werden. Alle politisch Verantwortlichen sollten sich dieser Verfassungsrealität stellen und sich nun auf die Umsetzung des Verfassungsauftrages konzentrieren.