Roth Der stille PutschHuffington Post Deutschland

Auf den ersten Blick mag es abwegig scheinen, von der zeitgenössischen Form eines Coup d’Etat, einem gut geplanten stillen Putsch zu sprechen. Doch was ist denn das, was da in Griechenland, Zypern, Portugal, Italien oder Spanien seit 2010 geschieht, und bald auch in Deutschland?

Es ist nichts anderes als die Zerschlagung des demokratischen Sozialstaats – und die eklatante Verletzung der Europäischen Grundrechtecharta. Griechenland, Spanien oder Portugal waren dabei erst der Anfang, quasi ein Experiment, wie ein Putsch ohne viel Widerstand durchgeführt werden kann. Bei diesem stillen Putsch haben seit 2009 schon Tausende Menschen ihr Leben verloren, durch fehlende Krankenversorgung, Hunger oder Selbstmorde aus Verzweiflung – und ein Ende ist nicht absehbar. Wir haben das vielleicht nicht zur Kenntnis genommen oder verdrängt, aber das ist keine Behauptung hyperventilierender Wutbürger, sondern das kühle Fazit unabhängiger Wissenschaftler. 

Demnach haben in den Krisenländern Südeuropas Krankheit und Sterblichkeit statistisch nachweisbar erheblich zugenommen. Nach offiziellen Statistiken ist die Selbstmordrate allein in Griechenland seit dem Ausbruch der Krise drastisch angestiegen – 4000 waren es in den letzten drei Jahren. Bislang war die Selbstmordrate in Griechenland die niedrigste in Europa. In Portugal wurden im Jahr 2012 tausend Tote wegen fehlender Krankenversorgung gezählt, verursacht durch die radikalen Sparmaßnahmen der Regierung, erzwungen durch die Troika.

Im Frühjahr 2012 meldeten die italienischen Medien eine „Selbstmordwelle“. Täglich käme es zu Verzweiflungstaten, ob von Unternehmern, die ihre Schulden erdrücken, oder Arbeitnehmern, die entlassen wurden – sie alle stehen vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens. Die europäische Statistikbehörde Eurostat schätzt, dass sich in Italien im Durchschnitt ein Mensch pro Tag wegen der EU-Krise das Leben nimmt. Wir wissen das, die Medien berichten darüber. Aber welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Keine!

Diejenigen, die diesen stillen Putsch in vielerlei Weise gefördert, wenn nicht sogar initiiert haben, auf jeden Fall aber die Profiteure sind, finden sich unter anderem an den sogenannten Runden Tischen, von denen es viele gibt. Beispielsweise den European Round Table of Industrialists oder den European Financial Services Round Table. Und wahrscheinlich hat noch nie jemand vom Entrepreneurs‘ Roundtable mit Sitz in Zürich und Berlin gehört oder gelesen.

Das ist ein ebenso exklusiver wie verschwiegener Männerbund (Frauen sind nicht zugelassen). Für eine Mitgliedschaft müssen die Unternehmer oder Banker einen jährlichen Gesamtumsatz von mindestens fünfhundert Millionen Euro vorweisen. Kurioserweise muss man sich dort duzen und darf bei den Treffen keine Krawatte tragen. Der Kodex: absolute Verschwiegenheit darüber, wer dazugehört und was sich bei den Treffen abspielt.

Das Hauptquartier der International Trade Union Confederation (ITUC) ist in einer kühlen, seelenlosen Hochhäuserschlucht zu finden, dem Boulevard du Roi Albert II. in Brüssel. Das ist weit entfernt vom Zentrum, wo die Europäische Kommission und das Europäische Parlament von einer gewaltigen Lobbyindustrie eingekesselt werden. Die ITUC repräsentiert weltweit rund 175 Millionen Arbeitnehmer in über 300 mit ihr verbundenen nationalen Gewerkschaftsorganisationen, unter anderem dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).

Im vierten Stock der ITUC arbeitet das Forschungsinstitut etui der ETUC, des europäischen Gewerkschaftsbunds, mitfinanziert von der Europäischen Union. Direktor der Abteilung für Bildung ist der 61-jährige Portugiese Ulisses Garrido, Gewerkschafter seit 1980. Er sollte beurteilen können, ob man tatsächlich von einem Putsch sprechen kann oder ob das nicht eine Verschwörungstheorie ist.

„Das ist keine Verschwörungstheorie! Für mich ist es ein Putsch. Warum sage ich das so eindeutig? Weil es die Synthese dessen ist, was wir hier in Europa erleben, eine Attacke auf den Sozialstaat. Was erreicht werden soll, ist eine komplette Veränderung der Gesellschaft, ohne dass die Bevölkerung darüber mitentscheiden kann. Es ist eine ideologische Revolution, eine stiller Putsch – zweifellos.“

London, 22. November 2012. Im Vorlesungsraum BN01 der renommierten Birkbeck-Universität diskutieren hochkarätige Wissenschaftler aus Portugal, Italien, Griechenland und Spanien über „Südeuropäische Krise und Widerstand“. Einer der Referenten ist der Grieche Costas Douzinas, Professor für Rechtswissenschaften in London. Er sagt unter anderem: „Griechenland ist die Zukunft von Europa“. Ihm zufolge benutzen die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland als „Versuchskaninchen, um zu testen, wie der Sozialabbau in ganz Europa in Zeiten der Krise umgesetzt werden kann.“

Auf der gleichen Konferenz spricht Boaventura de Sousa Santos, Professor für Soziologie und Direktor des Zentrums für soziale Studien an der portugiesischen Coimbra Universität. Er sieht eine von langer Hand geplante Strategie, den Wohlfahrtsstaat zu demontieren, den die Konservativen in Europa noch nie haben wollten. Jetzt würde dieser Plan nicht nur in Griechenland, Portugal oder Spanien umgesetzt, sondern in ganz Europa.

Der 48-jährige Andreas Banoutsos war Direktor der Vereinigung griechischer Industrieller in Athen und Ex-Regierungsberater. Ich erzähle ihm vom Titel des geplanten Buches, Der stille Putsch, und fragte ihn, ob er ihn übertrieben findet. „Nein“, sagt er, „ich stimme Ihnen zu. Wir haben hier ein System des Nepotismus. Die reichen Leute wurden seit der Krise reicher, sie profitieren von der Situation. Ich neige wirklich nicht zu konspirativen Erklärungen. Aber all das, was geschah, ist in Wirklichkeit keine reale Krise, sondern eine Krise, die durch eine bestimmte Elite provoziert wurde, um durch die Armut der anderen Menschen mächtiger und noch reicher zu werden.“