Der konservative Journalist Jan Fleischhauer erklärt in einem bemerkenswerten Artikel das Dilemma der deutschen Strafgerichte. Nachdem die erste sozialliberale Regierungskoalition 1969 die Idee der Strafe zu Gunsten einer pädagogischen Besserung als Rechtsprinzip einführte, ist die Zahl der verhängten jährlichen Freiheitsstrafen zwar dauerhaft von über 170.000 auf nur mehr 70.000 gesunken. Eine größere Gesetzestreue der Bürger ist durch die ideologische Maßnahme, die gegenüber dem jahrtausendealten Prinzip der Vergeltungsstrafe den Beweis ihrer Wirksamkeit immer noch schuldig geblieben ist, offenkundig nicht eingetreten. Dafür bestimmt das anmaßende Denken, Soziopathen durch verständnisvolle Urteile “bessern” zu können, das Denken von Politikern und Juristen und führt zu wachsenden Unmut bei den gesetzestreuen und friedfertigen Bürgern, deren Gewalthemmung sie abhält, die Gerechtigkeit in eigene Hände zu nehmen.

Im SPIEGEL schreibt Fleischhauer:

Den Enthusiasmus der Praktiker für die Strafzurückhaltung haben die Bürger nie wirklich geteilt. Im gemeinen Volk hält sich bis heute hartnäckig die Vorstellung, dass dem Verbrechen eine Vergeltung folgen sollte. Dieses Verlangen flammt bei Gelegenheit immer wieder auf, so sehr sich die Experten auch mühen, die Vorzüge des Vergeltungsverzichts zu preisen. In der vergangenen Wochen waren es die Gewaltbilder aus einem U-Bahnhof in Berlin, die viele nach einer entschiedeneren Aburteilung rufen ließen, in diesem Fall durch die Entscheidung des zuständigen Haftrichters befördert, den Delinquenten sofort wieder auf freien Fuß zu setzen.

Das Problem ist dabei gar nicht so sehr die Haftverschonung für den jugendlichen Exzesstäter – auch wenn man Zweifel haben kann, ob die Verhältnisse bei einem 18-Jährigen, der mal eben einen Passanten auf einem U-Bahnhof fast zu Tode tritt, wirklich so “geordnet” sind, wie die Berliner Staatsanwaltschaft dem Abiturienten nach der erste Anhörung sogleich bescheinigte. Das Problem ist eine Justiz, die weitgehend von Strafen absieht, die von den Tätern und, vielleicht wichtiger noch, auch den Opfern als solche empfunden werden.

Wer heute seiner Gewaltneigung freien Lauf lässt, wobei die Anlässe meist völlig nichtig sind, kann darauf vertrauen, dass sein Leben keine empfindliche Störung durch den Sanktionsapparat erfährt. Selbst in Fällen, in denen der Tod oder zumindest eine schwere Behinderung des Zufallsopfers in Kauf genommen wird, steht am Ende in der Regel eine Bewährungsstrafe, verbunden mit der Auflage, einige Stunden in einem Altenheim soziale Dienste zu verrichten oder beim örtlichen Gartenamt auszuhelfen.

Wir haben uns angewöhnt, Strafe als pädagogische Maßnahme zu sehen. Weil im Vordergrund des modernen Strafrechts, wie es sich nach 1969 durchgesetzt hat, die Resozialisierung, also Besserung des Übeltäters, steht, misstrauen die Experten dem Gefängnis, das ja von seinem Wesen her noch immer weniger Therapie- denn Strafanstalt ist. So laufen alle Argumente gegen “Warnschussarrest”, den die Bundesregierung nun als Reaktion auf die Berliner Vorfall durchsetzen will, auch darauf hinaus, die sozialpädagogisch bedenklichen Wirkungen des kurzfristigen Freiheitsentzuges herauszustellen. “Wenn jugendliche Gewalttäter ins Gefängnis müssen, kommen sie meistens nicht besser raus”, erklärte der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele folgerichtig die Ablehnung seiner Partei.

In den Hintergrund getreten ist dabei die Idee, dass Strafe Gewalt ist, ja ursprünglich auch sein soll. Sie vergilt das Übel grob asozialen Verhaltens mit einem anderen Übel. Oder wie es bei Karl Binding, einem der Hauptvertreter der bis 1969 gültigen Gerechtigkeitstheorie, heißt:

“Der Zweck der Strafe kann also nicht sein, den Rebellen gegen die Rechtsordnung in einen braven Bürger zu verwandeln… (Die Strafe soll) nicht heilen, sondern dem Sträfling eine Wunde schlagen.”

Vor allem bei den Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen überwiegt allen Strafrechtsreformen zum Trotz der Wunsch, den Täter leiden zu sehen für das, was er ihnen angetan hat. Sie erwarten von den Vollzugsorganen, ihnen eine Genugtuung zu verschaffen, die sie sich selbst nicht verschaffen dürfen. Ganz unberechtigt ist diese Erwartung nicht: Das Gewaltmonopol des Staates gründet schließlich ganz wesentlich auf dem Versprechen, im Schadensfall nicht nur Appellationsstelle, sondern auch Satisfaktionsinstanz zu sein. (…)

Man kann nur froh sein, dass sich der Vergeltungswunsch derer, denen der Staat keine Satisfaktion mehr gewährt, nicht öfter außerhalb der vorgeschriebenen Verfahrenswege Bahn bricht. Der Rechtsfriede hält auch deshalb, weil der Staat auf die Aggressionshemmung der Geschädigten vertrauen kann, die sich schon beim ersten Mal nicht wehren konnten. Es ist die Gesetzestreue, die den braven Bürger von seinem Peiniger unterscheidet.

Wie die Dinge liegen, setzt ihn diese Treue im modernen Strafverfahren ein zweites Mal in Nachteil.

Und da er nicht so dumm ist, dies nicht ganz richtig zu bemerken, dürfte die permanent empfundene Ungerechtigkeit des Staates gegenüber den ihn tragenden Bürgern ein Gutteil der Ursachen für Politikverdrossenheit ausmachen. Die Demokratie ist in Gefahr, wenn die Menschen resignieren, weil ihr Wille niemals Gesetz wird.