Dem unbeugsamen Mahner und ehemaligen Finanzpolitiker Thilo Sarrazin muss der Auftritt am 13. Januar in der Messe Dresden wie ein Heimspiel vorgekommen sein: Sachsen ist nur gering verschuldet, die Arbeitslosigkeit für Ostverhältnisse niedrig, das Land hat seit Jahren stabile Regierungen, hier begann 1989 unter anderem die friedliche Revolution, gegen alle grünen Blockaden wird die Waldschlösschenbrücke gebaut, und am Rande der Altstadt ragt unübersehbar eine beeindruckende neue Synagoge auf.

(Von Carsten S.)

Der Parkplatz war voll, die Zeitungen sollten später berichten, der Andrang habe zu einem Verkehrschaos in Dresdens Innenstadt geführt. Immerhin 3,50 € waren für den Parkplatz zu berappen, auch das Bier und die Brezeln an diversen Ständen in der Halle wurden nicht verschenkt. Sarrazin als Wirtschaftsfaktor, wer hätte das gedacht.

In den Zeitungen ist von 150 bis 200 „Gegendemonstranten“ die Rede, bei großzügiger Zählung können es um die 100 gewesen sein. Im „Dresden-Fernsehen“ wurde genauso lange über die Gegner wie über die 2500 Besucher berichtet (PI berichtete), über deren Motive fiel übrigens kein Wort. Leider fällt diese Art von Diskriminierung nicht unter das Antidiskriminierungsgesetz!

Gleich an der Treppe zum Messegelände wurden wir von einer jungen Frau empfangen, die uns den Ruf: „Toleranz statt Rassismus!“ entgegenschleuderte. Die Gegenfrage, ob es nicht auch Ausdruck von Toleranz sei, dass sie hier unbehelligt stehen und ihre kruden Thesen unters Volk bringen dürfe, passte wohl nicht in ihr schmales Weltbild, sie spulte wie eine Gebetsmühle immer wieder ihren Spruch herunter. Der nächste Demonstrant fuchtelte mit einem selbstgebastelten Schild vor unserer Nase herum: „Vielfalt statt Einfalt!“ Die Gegenfrage, ob er dieselben Maßstäbe auch an sich und sein hässliches Plakat lege, blieb unbeantwortet. Der nicht abreissende Besucherstrom forderte seine ganze Kraft, den Andrang hatten die Linken wohl unterschätzt. Die nächste Gruppe empfing uns mit dem Ruf: „Ihr habt den Krieg verloren, Ihr habt den Krieg verloren!“ Auf meine Frage, ob nach 18 Semestern Soziologiestudium das Zeitgefühl wohl etwas verlorengegangen wäre, spuckte mich einer an. Spucken statt argumentieren, so sind sie, unsere linken Weltverbesserer. Dabei hätte ich es seit der Lektüre von Jan Fleischhauers „Unter Linken“ wissen müssen. Linke verstehen keinen Spaß, wenn es um ihre Gesinnung geht.

Dann erreichten wir auch schon den Eingang, den Polizei und Sicherheitsdienste zuverlässig abschirmten. Im Saal fiel mir auf, wie sauber der Fußboden wirkte. Bei diesem Mistwetter. Später hörte ich, dass den Zuhörern draußen ein „brauner Teppich“ ausgerollt worden war. Der muss vom Dresdner Straßendreck ganz schwarz geworden sein. Hatten die Linken kräftig was zu waschen. Im Reinwaschen, zum Beispiel der Verbrechen des Kommunismus, kennen sie sich ja aus.

Der Saal war gefüllt bis auf den letzten Platz, mehr als 2.500 Zuhörer, die bisher bestbesuchte Lesung. Selbst Sarrazin musste einräumen, nachdem die Beifallsstürme abgeflaut waren, dass er ein Fernrohr brauche, um seine Fans in der letzten Reihe noch sehen zu können.

Da ich das Buch gelesen hatte, dazu einige der Quellen, konnte ich mich voll auf die Leute und die Atmosphäre konzentrieren. Sechs Monate Studium der regionalen und überregionalen Presse hatten ihre Spuren hinterlassen. Titel wie „Stammtisch der Eliten“ (MZ v. 25.08.2010), Berichte über „Ängste und Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft“, Urteile über den Autor als „Zahlenfetischisten“ und „unbelehrbaren Besserwisser“ warteten darauf, widerlegt zu werden.

Das Publikum war gemischt, Alte und Junge, Frauen und Männer, Kleidung von Jeans bis Kostüm. Es war ruhig, alle hörten aufmerksam zu, so still ist es nicht einmal in der Semperoper anlässlich einer Premiere. Die Ruhe wurde nur unterbrochen von spontanem Beifall. Rechtsextreme, wie von der Presse berichtet, waren beim besten Willen nicht auszumachen. Vielleicht war einer der Zuhörer vorher gerade beim Frisör und hatte die Frechheit besessen, einen schwarzen Pulli anzuziehen.

Sarrazin sprach anderthalb Stunden frei, locker und professionell. Er ging auf die Entstehungsgeschichte seines Buches ein, so auf die Probleme bei der Recherche bestimmter Daten. Selbst alte Freunde in Ministerien wurden stutzig, als er hartnäckig die Anteile der Migranten an bestimmten Entwicklungen hinterfragte.

Dann folgten die Fragen aus dem Publikum. In Presseberichten über seine Lesungen wird immer behauptet, dass kritische Frager „niedergebrüllt“ werden. Nicht mal im Ansatz, das disziplinierte Publikum nahm selbst die dümmste Frage gleichmütig hin. Provozierende Fragen gehören wohl zum Ritual, gleich der erste fragte, wo denn die Goldbarren der DDR-Notenbank geblieben sind, die 1990 angeblich verschwunden sind. Die meisten der Zuhörer dürften 1990 angesichts rußender Schornsteine, bröckelnder Fassaden und maroder Chemiefabriken andere Sorgen gehabt haben.

Einer fragte, ob er sich denn wohl fühlt mit seinem Pokerface. Sarrazin antwortete, dass sich sein Gesicht in den Jahrzehnten so entwickelt habe und er nicht daran denke, es auszutauschen. Eine Migrantin stand auf, lobte zunächst die deutschen Errungenschaften in Kultur und Naturwissenschaft, um ihn flugs aufzufordern, ein Goethegedicht zu rezitieren. Er ließ sich nicht examinieren, worauf die Migrantin das Gedicht mit lauter, erregter, sich überschlagender Stimme Zeile um Zeile schrie, bis ein mürrisches Raunen durch den Saal ging. Die nächste sagte, ihre Mutter sei Deutsche und der Vater Ausländer und sie selbst bestens gebildet, ob das seinen Thesen nicht widersprechen würde. „Gut für Sie, ich freue mich für Sie“, reagierte Sarrazin schlagfertig.
Entwaffnende, berührende Ehrlichkeit auch bei der Frage, was für ein Vorbild er denn mit seinen lediglich zwei Kindern abgebe. Andere Referenten hätten eine solche Frage als unzulässige Ausforschung ihrer Privatsphäre abgekanzelt.

Das war es auch schon mit polemischen Fragen. Es standen danach Leute auf, in deren Worten die Sorge um unsere Zukunft schwang, die eigene Beispiele brachten oder ihm Mut zusprachen angesichts der aktuellen Vorwürfe gegen seine Frau.

In einem kurzen Filmbericht des Dresden-Fernsehens war Beifall bei der Aussage: „Migranten alle nach Hause schicken, wäre eine Lösung…“ zu vernehmen, die Szene ist jedoch aus dem Zusammenhang gerissen. Kurzzeitig aufflammender Beifall erstickte nach wenigen Sekunden. Sarrazin nahm den Ball auf, verwies kurz auf den Rechtsstaat, an dem niemand vorbeikäme, was die hier lebenden Ausländer betrifft, aber er brachte das Gleichnis von der Wanne, in der man immer die gleichwarme Temperatur halten möchte. Wenn das heiße Wasser aus einem Hahn nur tröpfelt (die gewünschte Zuwanderung von Fachkräften), aus den anderen drei Rohren (illegale Einwanderung, die Asylbewerber und der Familiennachzug) dagegen kaltes Wasser kräftig nachströmt, dann muss die Temperatur zwangsläufig sinken. Und dort fordert er die Politik, anzusetzen, gleichwohl stellt er bis heute praktisch keine Änderung fest, nicht einmal den Willen dazu.

Auf seine einsame Position in Talkshows angesprochen, erwähnte er die Vertreter der Mitleidsindustrie, zitierte einen „T-34 der Sozialbranche“, der aus vollen Rohren auf ihn schießt, was ihn nicht kalt lasse. Die Politiker charakterisierte er als Leisetreter und Duckmäuser.

Ein weiteres Vorurteil, genährt in einem halben Jahr Pressestudium, wartete darauf, widerlegt zu werden: er wirke trocken, spröde und humorlos. Sarrazin haut zwar keine Schenkelklopfersprüche heraus, aber er pflegt einen tiefsinnigen, feinen Humor. Klinge statt Schwert.

Als die Zuhörer hinaus strömten, war kein einziger der linken Krawallmacher mehr da. Nach so viel real existierendem Rassismus hätte man doch etwas mehr Durchhaltevermögen erwartet. Die Möchtegern-Verhinderer zeigten keine Standhaftigkeit. Von der kalten und regnerischen Straße zieht man also schnell in die gemütliche Wärme der subventionierten Studentenbude, zählt Vaters oder Steuerzahlers Moneten, malt Plakate gegen die soziale Kälte und träumt von der nächsten „Aktion“.

» TV-Tipp: Das Dresden Fernsehen zeigt die Sarrazin-Lesung in voller Länge am 22. Januar um 20 Uhr und am 23. Januar um 8 Uhr und 22 Uhr.