Seinem Urteil von 9. Februar 2010 zufolge hält das BVerfG es grundsätzlich für zulässig, das sozialrechtliche Existenzminimum an den Konsumausgaben der ärmsten 20 Prozent der Haushalte zu messen. Der Gesetzgeber aber betrachtet nicht die untersten 20, sondern die untersten 15 Prozent. Das ist eine folgenschwere Weichenstellung, aus der alleine sich eine Absenkung des Regelsatzniveaus um mehr als 17 € gegenüber dem vorherigen Verfahren ergibt.
Die unumwundene Begründung der Bundesregierung, die Berechnung auf der Grundlage von 20 Prozent sei zu teuer, kann und darf nicht überzeugen.
Ohnehin stellt sich anlässlich der Vorgehensweise der Bundesregierung die Frage nach der Grenze einer solchen Politik: Darf der Gesetzgeber das Einkommen der Referenzgruppe beliebig nach unten drücken. In Hunger und Elend leben zu müssen, ist jedenfalls mit der Würde des Menschen nicht vereinbar! Dies spricht auch dagegen, dass der Gesetzgeber nach der nächsten Banken- oder Eurolandrettung nur die untersten zehn oder achteinhalb Prozent der Bevölkerung als Maßstab nimmt? Zudem muss bezweifelt werden, ob die angewandte Methode überhaupt einen objektiven Maßstab für die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums in einer Gesellschaft darstellt, die durch eine Zunahme eines Niedriglohnbereichs gekennzeichnet ist.
Die Bundesregierung unternimmt in ihrem Gesetzentwurf keinen Versuch, die Gruppe der „verdeckt Armen“ aus der Referenzgruppe auszuscheiden, obwohl das BVerfG dies von der Bundesregierung gefordert hatte. In Deutschland machen unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 2,5 und 4,9 Millionen Menschen ihre Ansprüche nach dem SGB II und XII nicht geltend. In der Referenzgruppe sind sie weiterhin enthalten. Weil sie ein besonders niedriges Einkommen haben sinkt dadurch das Leistungsniveau der Grundsicherungsempfänger ins Unerträgliche und Nichthinnehmbare.
An weiteren Stellschrauben wurde gedreht, indem etliche durchschnittliche Verbraucherausgaben als nicht regelsatzrelevant eingestuft wurden. Das schmälert den Hartz-IV-Satz zusätzlich erheblich.
Natürlich kann trefflich darüber gestritten werden, ob Ausgaben für Alkohol, Tabak, Gaststättenbesuche, Schnittblumen, Gärten oder die Kosten der chemischen Reinigung zu einem menschenwürdigen Existenzminimum gehören. Jeder wird das anders sehen. Das BVerfG hatte das Verfahren grundsätzlich nicht beanstandet. Die Richter sagen: Der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen könne in einzelnen Ausgabepositionen vom durchschnittlichen Verbrauch abweichen. Der Gesamtbetrag von Hartz IV müsse es aber ermöglichen, „einen überdurchschnittlichen Bedarf in einer Position durch einen unterdurchschnittlichen Bedarf in einer anderen auszugleichen“. Ein interner Ausgleich muss möglich sein.
Indem an unzähligen Positionen Abstriche gemacht wurden, hat der Einzelne aber nun nicht mehr die Wahl zwischen den Ausgaben für Schnittblumen oder für zwei Gläser Bier in der Woche – das widerspricht dem Urteil des BVerfG. Wenn der Gesetzgeber allerdings den Grundsicherungsempfängern schon vorschreiben will, wie sie zu leben haben, dann hätte er auch nur das Ausgabeverhalten derjenigen Alleinstehenden betrachten dürfen, die abstinent leben und zum Ausgleich für andere Dinge mehr Geld ausgeben.
Hartz IV-Leistungen sind zudem rein auf das „physische“ Existenzminimum reduziert. Das BVerfG hatte jedoch darauf abgestellt, dass das Existenzminimum auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn „der Mensch existiert notwendig in sozialen Bezügen“. Die Bundesregierung ist der Meinung, dass die in der Referenzgruppe durchschnittlich getätigten Ausgaben für den Besuch von Restaurants, Gaststätten, Cafès, Imbissständen, Kantinen und Mensen nicht zum physischen Existenzminimum gehörten. Doch die soziale Teilhabe durch solche Besuche ist Bestandteil einer menschenwürdigen Existenz. Dass sie eingespart wird, macht sich mit weiteren 18 € bemerkbar.
Um weitere 16 € wird der Bedarf durch den Abzug der Ausgaben für Alkohol und Tabak geschmälert. Es ist unrealistisch, dass ein Tabakabhängiger mit ca. 3 Zigarettenpackungen auskäme. Es ist ebenso unrealistisch, dass man ein Internetzugang für 8,– € im Monat erhält. Besonders frappierend ist, dass auch Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahre unterstellt wird, sie konsumierten Tabak und Alkohol im demselben Maße wie Erwachsene. Auch ihnen werden entsprechende Aufwendungen vom Regelsatz abgezogen. Das erklärt, dass die vormals „ins Blaue hinein geschätzten“ Hartz-IV-Sätze für Kinder zu hoch gewesen sein sollen, insbesondere für die über 14-Jährigen. Soweit zum Individualanspruch!
Einen ähnlichen willkürlichen Methodenmix nimmt der Gesetzgeber bei den statistisch nachgewiesenen Ausgaben für die Mobilität vor, die soweit viele Leistungsbezieher wegen Schwarzfahrens kriminalisiert. Statt die durchschnittlichen Mobilitätskosten der untersten 15 Prozent der Bevölkerung zugrunde zu legen, wurde im Rahmen einer Sonderauswertung nur das Ausgabeverhalten derjenigen Haushalte betrachtet, die keine Ausgaben für Kraftstoffe und Schmiermittel haben. Diese Haushalte sind jedoch die ärmsten. Die durchschnittlichen Ausgaben der Referenzgruppe für Mobilität liegen um knapp 19 € höher.
Vor allem kommt es zu einer erheblichen Unterdeckung des Mobilitätsbedarfes von Familien mit Kindern, die häufig im ländlichen Umfeld leben und fast immer ein Auto besitzen. Das zeigt sich auch daran, dass die ermittelten Werte für Kinder aufgrund zu geringer Fallzahlen (unter 25 Haushalte) keine repräsentativen Angaben erlauben.
Die neuen wie auch die gegenwärtigen bzw. zurückliegenden Hartz-IV-Sätze sind auf methodisch zweifelhaftem Wege zustande gekommen. Diese Regelsätze sind hiernach viel zu gering bemessen.
Manfred Wehrhahn